Willkommen in meinem Leben




[49] besser, du gehst.

[49]


3 Januar 2011.
Montag.


Ich war besonders gereizt gewesen an diesem Tag.
Nico hatte das schon die ganze Zeit zu spüren bekommen.

Aus unbegreiflichen Gründen hatte ich ein paar 100Gramm zugenommen.
Das hatte mich wirklich fertig gemacht.
Dabei hatte ich so sehr darauf geachtet, was ich aß.

Allerdings war die Sache mit dem Essen in Verbindung mit Nico nicht ganz einfach.
Eigentlich hatte ich ihm meine Kotzerei nach dem Abendessen immer ersparen wollen.
Ich hatte eben sehr wenig zu Abend gegessen, wenn Nico mit aß.

Jetzt drehte allerdings mein Gewissen durch.
Das ging so nicht mehr,
das musste Nico doch auch einsehen.
Ich konnte das einfach nicht mehr.

Nico und ich hatten an diesem Abend auf meinem Bett gelegen.
Ich war sehr launisch gewesen.

"Man, ich esse bald gar nichts mehr!", hatte ich gewettert.
und dann hatten wir das Diskutieren angefangen.

"Du musst mich lassen, ein paar Wochen, bitte", hatte ich Nico angebettelt.
Es ging um das Abendessen und um 'das danach'
Nico hatte nicht gewollt, er könne dabei nicht zu sehen, hatte er gesagt.
Ich hatte ihn weiterhin angebettelt.

Nicos Stimme hatte sich während des Gespräches verändert.
Immer mehr.
Seine Stimme war brüchiger geworden.
Irgendwie merkwürdig.
Wir hatten zwar nebeneinander gelegen, ich hatte allerdings an die Zimmerdecke gestarrt.

"Hol dir Hilfe", hatte Nico versucht zu sagen.
Doch seine Stimme hatte versagt.
War kaum mehr als ein Krächzen.

Ich hatte den Kopf in seine Richtung gedreht.
In seine roten Augen gesehen.
Gesehen, wie ihm die Tränen das Gesicht herunter liefen.

scheiße.

"Hey..." hatte ich angesetzt.
Wollte mich hinsetzen, ihm die Tränen von den Wangen wischen.
Doch Nico war aufgesprungen.

"Ich brauch 'ne Zigarette", dann war er auf den Dachboden verschwunden.

Scheiße. Scheiße. Scheiße.
Fein gemacht, Lucy.

Ich hatte kurz überlegt, dann war ich ihm gefolgt.
Ebenfalls mit einer Kippe.

"Alles okay?", hatte ich gefragt, als ich den Dachboden betreten hatte.
Nico hatte genickt.
Na von wegen, alles okay.
Gar nichts war okay.

Nico hatte auf dem Drehstuhlgesessen und gewirkt wie ein Häufchen Elend.
Das konnte ich ihm doch nicht antun.
Es tat mir so leid.
Das ging so einfach nicht.

Ich stand vor ihm.
Er hatte seine Arme um mich gelegt.
"Ich will das so nicht", hatte ich leise gesagt.
"Was?", Nico hatte nicht verstanden was ich gemeint habe.
"Es wär besser, wenn du gehst", hatte ich gesagt.
"Nein", hatte Nico erwiedert.
"Doch", ich blieb bei meiner Meinung.
"Sag sowas nicht, bitte", Nico hatte mich aus großen Augen angesehen.

Es wäre besser für ihn.
Ganz bestimmt.
Ich wollte ihn nicht leiden lassen.
Ihn nicht leiden sehen.
Ich konnte ihn nicht leiden sehen,
das tat viel zu sehr weh.

Wir waren zurück in mein Zimmer gegangen.
Hatten wieder auf meinem Bett gesessen.
Ich hatte Nico nicht angesehen.
Geschwiegen.

"Sag mir, dass es besser ist wenn ich gehe und guck mir dabei in die Augen", hatte Nico gesagt.
Ich hatte auf den Fußboden gestarrt.
"Das kann ich nicht", hatte ich geflüstert.
"Warum nicht?", hatte Nico gefragt.

Ich war aufgestanden.
Wortlos.
War ins Badezimmer geflüchtet.
Zu dumm, dass man dort nicht abschließen konnte.

Es hatte mir schon die ganze Zeit in den Fingern gekribbelt.
Ich musste es tun.
Mir war so sehr danach.
Ich hatte es so lange nicht mehr gemacht.

Die Ärmel meiner Jacke waren schon hochgeschoben gewesen.
Ich fand nichts.
Ich fand verdammt noch mal nichts.
Keine einzige verdammte Klinge.
Kein Messerchen.
Nichts.
Nur die alte stumpfe Schere.

Ich hatte sie angesetzt.
Am linken unterarm.
Durchgezogen.
Neun oder Zehn Mal.
Sie war zu stumpf.
Viel zu stumpf.
Alles was sie bewirkte, waren kleine dünne Kratzer.

Ich schmiss die Schere dorthin zurück wo ich sie her hatte.
Setzte mich auf den kalten Fußboden und lehnte mich an die Badewanne.
Ich schloss die Augen.

Irgendwann klopfte es an der Tür.
"Kann ich reinkommen?", hatte Nico vorsichtig gefragt.
"Nein", hatte ich geantwortet.
Nico kam trotzdem herein.
Schloss die Tür wieder & setzte sich neben mich.

Meinen Arm hielt ich so, dass man die dünnen Kratzer nicht sehen konnte.
Wir schwiegen uns eine Weile an.
Dann fing Nico wieder an zu reden.
"Warum kannst du es nicht sagen?".
"Weil ich es nicht will", murmelte ich.
"Warum sagst du dann sowas?", hakte Nico nach.
"Es wäre besser für dich", murmelte ich wieder.
"Nein, wäre es nicht", meinte Nico.
"Bestimmt", beharrte ich.

Meinen Ärmel zog ich unauffällig herunter.

"Es wäre nicht besser für mich. Ich lass dich nicht alleine. Ich geh ganz bestimmt nicht. Nichts ist besser ohne dich. Ich liebe dich", hatte Nico leise gesagt.

"Ich dich doch auch", flüsterte ich.

"Was machen wir hier eigentlich?", hatte Nico kurze Zeit später gefragt.
"Sitzen hier im Badezimmer auf dem Fußboden!".
Ich hatte schmunzeln müssen.

Zurück in meinem Zimmer hatte Nico sich wieder aufs Bett gelegt.
Ich hatte daneben gesessen und gedankenverloren an meiner Jacke herumgefummelt.
An meinem Ärmel.

"Es ist noch was, oder?", hatte Nico gefragt.

Da bekam mich wieder diese Angst.
Die Angst die ich damals schon immer bei Anton gehabt hatte.
Dann, wenn ich genau wusste, dass er wusste was ich getan hatte.
Oder wenn es irgendwo fast geraus gekommen wäre.

In der Zeit in der ich mit Nico zusammen war,
war es bereits auch schon passiert.
Ein einziges Mal.

"Nein, ist es nicht", hatte ich geantwortet.
"Doch", hatte Nico gesagt, "Diesen Blick kenne ich".

"Was soll das heißen?", hatte ich vorsichtig gefragt.
Während diese gewisse Angst stärker wurde.

"Zeig mal deinen Arm", sagte Nico ganz dieret.
"Warum?", fragte ich.
"Zeig".

Ich schob den Ärmel hoch und zeigte die unscheinbaren Kratzer.
Ich hatte vorsichtig darüber gestrichen.
"Die Schere war zu stumpf".

"Zum Glück", seufzte Nico.
"Rede doch mit mir".

"Ich versuchs", hatte ich gesagt.

Nico hatte mir keine Vorwürfe gemacht.
Und dafür war ich ihm sehr dankbar gewesen.
Und er war geblieben, obwohl ich gesagt hatte, er solle gehen.

Und ich war immer noch der Meinung, es wäre besser für ihn ...

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